Fünfzig Pfennig für „der wo“

 

Fünfzig Pfennig für jeden Relativsatz mit „der wo“. So war in den frühen Achtzigerjahren die Regelung an meiner Grundschule. Und da kam ganz schön was zusammen. (An dieser Stelle viele Grüße an meinen ehemaligen Grundschullehrer Herrn Witter(1). Hoffentlich haben Sie auf den Kanaren besseres Wetter als wir hier!) Die Aufgabe der Schule war es, uns Dorfkindern Hochdeutsch beizubringen. Dialekt hatte da keinen Platz.

Wegweiser auf Inishmore

Welchen Stellenwert regionale Sprachen anderswo haben, musste ich in unserem letzten Sommerurlaub in Irland erleben. Dún Eoghanachta. Solchen Wortungetümen sieht man sich als Tourist gegenüber, sobald man sich in die Gaeltacht wagt, die Gebiete, in denen das Irische offiziell die vorherrschende Sprache ist. Orts- und Straßenschilder sind dort nicht zweisprachig, sondern ausschließlich auf Irisch. Doch auch im Rest des Landes ist das Irische – nicht das Englische – Hauptamtssprache. Englisch bringt es nur zur „second official languge“. Die irische Verfassung ist zweisprachig, wenn die beiden Sprachfassungen voneinander abweichen, geht jedoch der Text in irischer Sprache vor. Und das, obwohl nur 40,8 % der Iren von sich behaupten, der irischen Sprache überhaupt mächtig zu sein. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Irisch an den Schulen gelehrt wird. Und zwar als Pflichtfach.

Woher dieser unterschiedliche Umgang mit regionaler Sprache? Klar, einerseits vergleiche ich hier Äpfel mit Birnen. Das Irische ist eine eigenständige Sprache, kein Dialekt einer Hochsprache. Und dann ist es eben eine Sprache, während es in Deutschland so viele Dialekte wie Dörfer gibt. Doch schon diese  zweite Unterscheidung trifft nur bedingt zu. Zwar wird an Schulen ein auf staatliche Initiative hin erarbeitetes Standardirisch unterrichtet. Tatsächlich wird dieses künstlich geschaffene „Hochirisch“ jedoch nirgendwo gesprochen, stattdessen existieren verschiedene regionale Ausprägungen. So gesehen existiert das Irische nur in Form von Dialekten.

Der Ursprung der unterschiedlichen Bewertung von Regionalsprache dürfte vielmehr in der Geschichte liegen, in dem anders geprägten Ringen um einen Nationalstaat. Für die Iren ist das Irische die autochthone Sprache, in Abgrenzung zum Englischen, der Sprache der Besatzer. Noch heute ist die eigenständige Sprache (Englisch und Irisch gehören nicht einmal demselben Sprachzweig an) ein Symbol auch kultureller Eigenständigkeit. Die deutschen Dialekte hingegen sind aus jahrhundertelanger Kleinstaaterei entstanden. Wo jeder Landstrich ein eigenes Fürstentum bildete, fand auch keine sprachliche Durchmischung statt. Als ich zur Grundschule ging, gab es Deutschland als staatliches Gefüge gerade einmal gute hundert Jahre. Kein Wunder, dass dieser junge Staat das sprachlich Einende, nicht Trennende fördern wollte.

Doch seit meiner Schulzeit ist noch mal viel Wasser die Altmühl hinuntergeflossen. (Und das, obwohl ich behaupten kann, an den Ufern des am langsamsten fließenden Fluss Deutschlands geboren zu sein.) Europa wächst immer stärker zusammen, zumindest war das der Plan. Die Epoche der „europäischen Kleinstaaterei“ ist hoffentlich beendet. Und dennoch, der Mensch besitzt eine tief verwurzelte Sehnsucht nach regionaler Zugehörigkeit. Das Erstarken separatistischer Kräfte ist sicher nicht nur, aber auch darauf zurückzuführen. Deshalb muss an die Stelle des Europa der Staaten ein Europa der Regionen treten. Regionen bieten ein viel höheres – und gesünderes – Identifikationspotenzial. Regionale Identität lässt sich sinnlich erleben, staatliche nicht. Ein kleiner Test: Wie schmeckt Deutschland? Nicht wirklich. Wie schmeckt Franken? Nach Bratenduft, nach Lebkuchen, nach feuchtem Laub am Waldboden, nach den Algen im Altmühlsee. Wie schmeckt Hamburg? Nach Seetang, nach Astra, nach großer weiter Welt und ein bisschen nach Fisch.

Neuschwanstein

Ein Freund, Aki, der ursprünglich aus Persien stammt, bezeichnet sich gerne als Franke. Würde er sich auch als Deutscher bezeichnen? Ich habe ihn noch nicht gefragt. Aber er schwärmt von „unserem Franken“ und „unserem Bayern“. Regelmäßig macht er sich von seiner kleinen Autowerkstatt am Nürnberger Plärrer auf zu Orten wie Schloss Neuschwanstein oder Schloss Berg am Starnberger See, wo Ludwig II. zu Tode kam. „Wenn der Ludwig sehen könnte, dass ich da am Ufer stehe, würde er sich gleich noch mal umbringen“, meint Aki. Ich meine das nicht. Der Kini hätte sich bestimmt über den begeisterten Neubayern gefreut.

Regionen können also ein konkreteres, erlebbares Heimatgefühl stiften als Länder, und das für Neubürger wie für Alteingesessene. Deshalb sollten wir regionale Identität fördern, und dazu trägt auch die Pflege von Dialekten bei. Fränkisch, Bayerisch, Schwäbisch oder Kölsch als Schulfach? Warum nicht. Es muss ja nicht gleich ein Pflichtfach sein. Und wer als Kind verschiedene Bundesländer durchlebt, hat eben die Möglichkeit, verschiedene Dialekte zu erlernen – und damit auf jeder Party zu brillieren.

Früh übt sich der, der wo ein Meister werden will.

 

(1) Name von der Redaktion geändert.