TERROR von Ferdinand von Schirach am Staatstheater Nürnberg

Der Angeklagte strahlt über das ganze Gesicht. Vor wenigen Minuten ist er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Absurd? Nein, Theater.

Wir befinden uns in der Publikumsdiskussion im Anschluss an eine der Aufführungen des Stücks Terror von Ferdinand von Schirach an den Nürnberger Kammerspielen. Wie 30 weitere Bühnen im deutschsprachigen Raum hat das Staatstheater Nürnberg das Stück im Programm. Es ist das Stück der Saison, es trifft es den Nerv der Zeit: Ein Terrorist kapert eine Lufthansa-Maschine auf dem Flug von Berlin nach München und kündigt an, sie über der mit 70 000 Menschen voll besetzten Allianz-Arena abstürzen lassen. Zwei Kampfjets der Luftwaffe versuchen, das Flugzeug zum Abdrehen zu zwingen – ohne Erfolg. Kurz vor Erreichen der Arena beschließt einer der beiden Piloten, Lars Koch, schließlich eigenmächtig, das entführte Flugzeug abzuschießen. Den Tod der 164 Passagiere nimmt er in Kauf, um die 70 000 Menschen im Stadion zu retten. Nun ist er wegen 164-fachen Mordes angeklagt, die Bühne wird zum Gerichtssaal, das Publikum zu seinen Schöffenrichtern. Die Zuschauer entscheiden: schuldig oder nicht schuldig?

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht auf seiner Website eine tagesaktuelle Übersicht über die bisher an den Spielorten ergangenen Urteile. Es zeichnet sich eine leichte Mehrheit für schuldig„nicht schuldig“ ab: 59,8 % der Zuschauer insgesamt votierten für Freispruch. Betrachtet man jedoch nicht die Gesamtstimmen, sondern die Richtersprüche, fällt das Ergebnis eindeutig aus: Bei den bisher insgesamt 215 Vorstellungen fiel 201-mal das Urteil „nicht schuldig“, nur 14-mal wurde der Angeklagte für schuldig befunden.1 In Frankfurt am Main, von wo der Hauptdarsteller des heutigen Abends, Nico Holonics, angereist ist, um spontan für den erkrankten Nürnberger Martin Bruchmann einzuspringen, wurde Lars Koch bisher immer freigesprochen. „In Frankfurt komme ich immer viel zu leicht davon, und in Nürnberg werde ich dann endlich verurteilt!“, sagt Holonics, der dem Verhalten der von ihm gespielten Figur sehr kritisch gegenübersteht, bei der an die Aufführung anschließenden Diskussion. Allerdings tendiert auch das Nürnberger Publikum dazu, den Angeklagten freizusprechen. „Unsere“ Aufführung war – neben der Premiere – erst die zweite, bei der das Publikum auf „schuldig“ erkannte.

Die relative Ausgewogenheit der Gesamtstimmen zeigt jedoch, dass die Entscheidung nicht einfach ist, einem von dem Autor nicht einfach gemacht wird. Sie rührt an Fragen der Politik, der Verfassung und der Rechtsphilosophie. Können Menschenleben gegeneinander aufgewogen werden? Sind 70 000 Leben mehr wert als 164? Oder ist ein Menschenleben etwas Absolutes, das nicht nicht schuldigin Zahlen aufgerechnet werden kann? Die Würde des Menschen ist unantastbar, so gibt es unsere Verfassung vor. Beraubt man Menschen nicht dieser Würde, wenn man über sie verfügt wie über Objekte? Öffnet man, indem man von diesem Grundprinzip unserer Gesellschaft abweicht, nicht Szenarien Tür und Tor, die noch schwerer wiegen als Terrorismus? Aber kann es andererseits angehen, Prinzipien, so richtig sie auch sein mögen, über die mögliche Rettung von Menschenleben zu setzen? – Kann angesichts dieser Überlegungen eine Entscheidung richtig, eine Entscheidung falsch sein? Müsste das Handeln eines Menschen, der zum Fällen einer solchen Entscheidung gezwungen ist, nicht mit einem „übergesetzlichen Notstand“ zu ent-schuldigen sein?

Das Gedankenexperiment des Bretts des Karneades, zu dem dieses Stück letztlich eine Variation bildet, ist nicht neu, es wird in den ersten Semestern jedes Jurastudiums besprochen. In Zeiten des Terrors aber erlangt es erschreckende Aktualität.

Das Nürnberger Ensemble setzt Schirachs Werk, das nicht ausschließlich ein Theaterstück, sondern auch ein Stück Staatsbürgerkunde sein möchte, kongenial um. Die eine oder andere déformation professionelle der Beteiligten wird liebevoll angedeutet, ohne den juristischen und militärischen Berufen einen regelrechten Zerrspiegel vorzuhalten. Denn darum geht es an diesem Abend nicht. Es geht nicht um Slapstick, vielleicht auch nicht um literarische Finessen. Es geht um Staatsbürgerkunde und um Teilhabe im besten Sinne. Denn bei welchem Theaterstück sonst erlebt man es, dass im Anschluss so kontrovers diskutiert wird: zwischen Ehepartnern, zwischen wildfremden Menschen über mehrere Reihen hinweg, zwischen Bühne und Saal, zwischen Rolle und Schauspieler.

 

1 Stand 18.3.2016

Die aktuelle Übersicht über die Abstimmungsergebnisse findet sich hier: https://terror.theater

Hier geht es zu den weiteren Aufführungsterminen in Nürnberg: https://www.staatstheater-nuernberg.de/

Warum der Erikativ aus Franken kommt

Aus deutschen Wohnlandschaften nicht mehr wegzudenken: die Lustigen Taschenbücher in der Übersetzung von Erika Fuchs.
Aus deutschen Wohnlandschaften nicht mehr wegzudenken: die Lustigen Taschenbücher in der Übersetzung von Erika Fuchs.

Herbst. Die Freibäder haben geschlossen, die Weihnachtsmärkte noch nicht geöffnet. Die ideale Jahreszeit für einen Museumsbesuch! Da trifft es sich gut, dass in der Nähe von Nürnberg vor Kurzem das erste Museum Deutschlands, das ausschließlich einem Übersetzer – bzw. einer Übersetzerin – gewidmet ist, eröffnet hat.

Die Rede ist von Erika Fuchs, der Grande Dame der deutschen Comicübersetzung. Als Übersetzerin der Mickey-Maus-Magazine gestaltete sie die Entwicklung der deutschen Sprache mit – und das, obwohl sie das Angebot des Ehapa-Verlags zunächst entsetzt abgelehnt hatte. Donald Duck auf Deutsch? Konnte das funktionieren?

Ja, es konnte, denn Erika Fuchs übertrug das Original kongenial, vielleicht sogar mit mehr Sprachwitz als in der englischen Fassung. So bedient sich der arrivierte Dagobert einer grammatisch korrekten Sprache, genau wie Erika Fuchs‘ ostpreußische Großeltern. Die Panzerknacker scheinen sprachlich der Berliner Gosse entsprungen. Und Tick, Trick und Track? Die sprechen die deutsche Jugendsprache, die Erika Fuchs noch im hohen Alter in der Straßenbahn den Schülern ablauschte.

Sogar eine eigene Konjugationsform erfand Erika Fuchs: den Inflektiv, den alleinigen Gebrauch des Verbstamms. Jubel, jubel, klatsch! Die deutsche Sprache ist um eine Form reicher, zu Ehren ihrer Erfinderin auch Erikativ genannt.

Warum sich das Erika-Fuchs-Haus gerade in Schwarzenbach a. d. Saale befindet? Dort lebte die gebürtige Rostockerin und promovierte Kunsthistorikerin mit ihrem Mann Günter Fuchs, einem Maschinenbauingenieur, der Geschäftsführer der dort ansässigen SUMMA-Feuerungen war. So kommt es, dass Entenhausen im Fichtelgebirge liegt. Erika Fuchs übersetzte die englischen Ortsbezeichnungen nicht, sondern ersetzte sie mit Orten aus Oberfranken: Schnarchenreuth, Kleinschloppen oder Bobengrün finden sich nicht nur im Donald-Duck-Universum, sondern auch auf der fränkischen Landkarte.

Ein Grund mehr, diesem Museum bald einen Besuch abzustatten. Und sich vielleicht sogar, zum ersten Mal seit 30 Jahren, zu Weihnachten ein Lustiges Taschenbuch zu wünschen?

Freu!